Lagerfeuer-Romantik - Warum Geschichten überzeugender sind als Fakten
12/17/20244 min read
Wer die Herzen der Menschen berührt, braucht sich um die Köpfe nicht zu sorgen.
~Johann Wolfgang von Goethe~
Zur Zeit der Aufklärung, während des 18. Jahrhunderts, gingen die Menschen, vor allem Immanuel Kant, davon aus, dass die Ratio das höchste Gut des Menschen sei. Die Aufklärer dachten, dass Gedanken unsere Gefühle steuern würden.
Weil jede Bewegung eine Gegenbewegung erzeugt, gab es da noch die Romantiker.
Die Romantiker gingen davon aus, dass es genau umgekehrt sei: Erst kämen die Gefühle, dann die Gedanken.
Im Gegensatz zu damals haben wir heute die wissenschaftliche Forschung, um derartige Theorien zu überprüfen.
Heute wissen wir, dass die Romantik mit ihrer Gefühls-Theorie richtig lag.
Denke (oder fühle) nur an Clickbait-Headlines, Nachrichten, Werbung und Infotainment: Der Mensch muss erst fühlen, um denken zu können.
Das Jahr 1933 war das erste nach 10 Jahren Bestand, in dem die Walt Disney Company schwarze Zahlen schrieb. Sie machten einen Haufen Umsatz und der Namens-Geber strich einen Oscar nach dem anderen ein – das Unternehmen kannte Gewinne aber bisher nur aus Geschichten.
Ein holländischer Ratgeber gab Walt den Tipp mit der Mickey-Mouse-Uhr. Nach anfänglichem Zögern stimmte der Zeichentrick-Nerd zu.
Trotz Wirtschaftskrise verkaufte Disney davon eine Million Stück – und wurde zum größten Uhrenverkäufer weltweit in dem Jahr. Das hat Disney vor dem Bankrott gerettet – und das internationale Merchandise war geboren.
Walt Disneys Fazit dazu: »Wir machen keine Filme, um Geld zu verdienen – wir verdienen Geld, um Filme machen zu können.«
Sobald die Schlaufe der Neugier geöffnet ist, fühlt sich der Geist dazu verpflichtet, den Rest der Geschichte herauszufinden.
Geschichten sind Schichten aus Metaphern, Konzepten, Perspektiven und Erfahrungen, die Menschen auf eine Reise mitnehmen.
Der Leser will die ganze Geschichte verstehen. Er will wissen, was vor, während und nach einem bestimmten Ereignis passiert ist.
Geschichten schaffen Klarheit.
Etwas Neues zu lernen oder Klarheit über einen Aspekt zu gewinnen, erhöht den Dopaminspiegel im Gehirn: Dadurch sind wir motiviert, weiterzulernen.
Erst die Neugier des Lesers öffnet seinen Geist für mehr Informationen.
Seit der kognitiven Revolution (bei der die Sprache entstand) vor etwa 70.000 Jahren nutzen Menschen Geschichten, um Sachverhalte plastisch zu beschreiben.
Damals wie heute am liebsten am Lagerfeuer. Auch der Ratgeber-Effekt findet seinen Ursprung am Lagerfeuer. Dort gaben die Jäger und Sammler ihr Erfahrungs-Wissen weiter an jene, die nach ihnen kamen. Sie warnten vor Raubtier-Gebieten und verpackten ihre Erfolge in Geschichten.
Nur Emotionales bleibt im Langzeit-Gedächtnis kleben – dafür liefern Geschichten Tür und Tor.
Deswegen lassen sich Sachverhalte aus einer Biografie besser merken als aus einem Lexikon.
Der Best- und Longseller-Autor Robert Greene ist der festen Überzeugung, man müsse den Leser erst verführen, um ihm später etwas beibringen zu können.
Alle seine Bücher sind gleich aufgebaut:
Kapitel-Start mit einer (in seinem Fall historischen) Geschichte um einen Themen-Block herum
Ableitung von Lehren aus der Kapitel-Einleitung
Praxistaugliches Fazit
Laut Greenes Aussage kann der Leser die (langen) Einleitungs-Geschichten aus seinem 600-Seiten-Wälzer »Die Gesetze der menschlichen Natur« getrost überspringen, denn sie seien nur zur »Verführung« da.
Sein Protegé, Ryan Holiday , macht übrigens genau das Gleiche.
Es ist eine valide, zeitlose und simple Methodik, um Kapitel zu strukturieren.
Ein knackiges Beispiel (aus Donald Millers »Held in eigener Mission«):
Einleitungs-Geschichte:
»Das letzte Mal, als ich im Kino einen Film über einen Boxer sah, der sich beweisen und einen Kampf im Schwergewicht gewinnen wollte (keine Ahnung, welcher Film das war, es gibt Hunderte davon), musste der Autor als Erstes definieren, was der Boxer wollte (den Kampf gewinnen), und brachte dann eine geschlagene Stunde damit zu, uns zu erzählen, was für ein nettes, selbstloses Wesen dieser Kerl war; andernfalls wäre es uns egal, ob er gewinnt. Ich hätte beinahe die Augen verdreht, als dieser Boxer, nachdem er einem Kind Nachhilfe gegeben, die Miete einer alleinerziehenden Mutter bezahlt und einem Obdachlosen ein Abendessen spendiert hatte, tatsächlich einen geretteten Hund adoptierte.
Und warum das alles? Damit wir ihn mögen und jubeln, wenn er am Ende den Kampf gewinnt, was er – Vorsicht: Spoiler-Alarm – auch tat, um dann Blickkontakt zu haben mit der Frau, der er geholfen hat, dem Mann, dem er geholfen hat, dem Kind, dem er geholfen hat, und dem Hund.
Abspann.«
Lehre(n) aus der Einleitungs-Geschichte:
»Je egoistischer das Ziel des Helden, desto mehr müssen Geschichtenerzähler am Manuskript herumdoktern, um ihn weniger wie einen Mistkerl aussehen zu lassen.
Die Lektion für uns alle dabei ist, dass wir zwar durch nuancierte Wünsche angetrieben werden, jedoch sicherstellen sollten, dass wir uns selbst disziplinieren, gute Dinge zu tun, gut zu anderen Menschen zu sein, großzügig zu geben und einige selbstsüchtige Wünsche abzumildern, die in uns am Werk sind.«
Praxistaugliches Fazit:
»Im wahren Leben ist es so: Je größer der gegenseitige Nutzen ist, desto mehr Sinn wird die Geschichte haben.
Eine Art Urwunsch zu finden, der Sie antreibt, ist entscheidend für Ihr Streben nach erzählerischer Zugkraft.
Ich rede von einem tiefen Antrieb in Ihnen, der etwas für Sie aufbauen möchte.
Und dann finden Sie heraus, wie Sie diesen Wunsch einsetzen können, um die Welt zu einem besseren, freundlicheren, schöneren und gütigeren Ort zu machen.
Andernfalls müssen Sie einen Hund adoptieren.«
Die besten Geschichten schreibt das Leben selbst.
Auf Zahlen, Daten, Fakten basierende Geschichten findest du, unter anderem, in Büchern von Autoren-Kollegen.
Beachte bei der Story, dass es sich entweder um eine Erfolgs-Geschichte oder um eine Verlust-Geschichte handeln muss: Nur aus ihnen lassen sich (die richtigen) Lehren ziehen.
* Das war ein Ausschnitt aus meinem aktuellen Buch Effective Nonfiction
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